QED, by Sig Bang Schmidt - click for more art by Sig Bang Schmidt

Star QED, by Sig Bang Schmidt

Bernd Ulrich / Ernst Volland

 

DER ERSTE WELTKRIEG ALS KÜNSTLERISCHES EREIGNIS

 

Wie die Geier die Walstatt, so umkreisen seit je die Wissenschaften und die Künste das Schlachtfeld- diese Stätte des Todes. Von Thukydides bis Thomas Hobbes, von Carl von Clausewitz bis Max Scheler sind sie - von mehr oder weniger großer Höhe herab - dem „Genius des Krieges” auf der Spur. Mit völlig unterschiedlichen Motivationen natürlich und dementsprechend völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Sie zielen auf die Verhinderung einer Schlacht ebenso wie auf ihre Intensivierung oder auch nur darauf, ihr einen Sinn zu geben.  Kurz: Schlachten wirken inspirierend.

Das zeigte sich nicht zuletzt im Ersten Weltkrieg, der im Osten wie im Westen als schneller Bewegungskrieg begann und rasch (von Deutschland aus gesehen) vor allem im Westen zum Stellungskrieg erstarrte. In dessen Verlauf wurden in riesigen Materialschlachten Hekatomben von Toten für kleinere „Frontbegradigungen” und „Geländegewinne” geopfert. Die Schlacht um Verdun oder die Schlacht an der Somme gerieten zum Inbegriff des industrialisierten Krieges, in dem namentlich die Artillerie aller Kaliber und das Maschinengewehr das Schlachtfeld beherrschten.

Selbst diese „Blutmühlen” animierten zur Interpretation und Projektion, reizten zum Philosophieren und Räsonnieren und gaben auch der Ironie eine Chance; wie etwa dem österreichischen Psychoanalytiker und Schriftsteller Fritz Wittels in seinem Roman „Zacharias Pamperl oder Die Verschiebung des Halbmonds”, in dem er zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen „Herrn am Fenster” schildert, der angesichts ausziehender Truppen und bevorstehender Schlachten so „laut schrie, daß seine Glatze so rot wurde wie das Blut, das die andern vergießen sollten”.

Der Erste Weltkrieg war nicht nur der erste totale Krieg, er war unbestreitbar auch einer der künstlerisch animierendsten Kriege. Deutlich wurde dies etwa in der bildenden Kunst. Alle Künstler von Rang in der europäischen Avantgarde waren daran ebenso beteiligt wie nahezu sämtliche Stilrichtungen der Moderne - der Futurismus, seine englische Spielart, der Vortizismus, der Expressionismus, Impressionismus, der Kubismus und der sich vielleicht am unmittelbarsten direkt als Reaktion auf den Weltkrieg verstehende Dadaismus. Heute betrachtet, vermengen sie sich zu einem ästehtisch so wirkungsvollen wie selbst in der Abstraktion noch grausam-blutigen Panorama. Es bloß zu schildern könnte keinen Begriff geben von der unglaublichen Fülle und Dichtigkeit der Formensprachen, in denen sich der Moloch Erster Weltkrieg auf Leinwand und Skizzenblock eingeätzt hat. Angesichts des erlebten oder auch nur imaginierten Infernos konzentrierten sich Künstlerinnen und Künstler zum einen auf das individuelle Abbild der Toten, der verletzten und gequälten Menschen. Es zeigt sich etwa in der Holzschnittserie „Krieg” von Käthe Kollwitz oder in einigen Gravuren des franzöischen Malers Georges Rouaults, in denen das Martyrium Christi dem Bildaufbau den Rahmen setzt.

Das völlige Verschwinden des Menschen in der kahlen Anonymität der Kriegslandschaft ist in der zeitgenössischen künstlerischen Reaktion auf den Weltkrieg als zweites hervorstechendes Merkmal zu verzeichnen. In den Visionen etwa Félix Vallotons, den atomisierten und apokalyptischen Landschaften von Paul Nash oder von Ludwig Meidner spiegeln sich die gespensterhaften, menschenleeren Orte des Krieges wider und zugleich die von industriellen Ressourcen und technischen Entwicklungen abhängigen Formen seines Verlaufs. In diesem destruktiven Desaster vermögen nur noch - wie es Wyndham Lewis oder Christopher Nevinson in einer Art expressiven Kubismus des Unwirklichen zu zeigen vermögen - erstarrte und maschinenhaft-stählerne Robotersoldaten zu überleben.

Etwas, scheint uns, eint diese beiden Wahrnehmungsweisen: In dem Maße, in dem der Mensch (als Soldat) im Niemandsland zwischen den Fronten atomisiert wird und ununterscheidbar sich mit dem Schlamm der Trichterfelder verbindet oder vor diesem Hintergrund gerade das Individuelle oder symbolisch überhöhte Leiden des einzelnen seinen Ausdruck findet, verquickt sich die Erfahrung des Horrors mit der des Sakralen. Doch bleibt der aus dieser Synthese hervorgehende religiös inspirierte Blick auf den Krieg in seinen eindrucksvollsten Bildern, wie etwa dem 1932 fertiggestellten Triptychon „Der Krieg” von Otto Dix, gänzlich ohne Hoffnung.

Freilich stellt sich die Frage, inwieweit das hier, in der bildenden Kunst, vor allem aber in der Literatur über den Ersten Weltkrieg sichtbar werdende Kriegserlebnis nicht nur als Beförderer einer schon in der Vorkriegszeit gefundenen Bildsprache verstanden wurde, einer Bildsprache wohlgemerkt, die sich in ihren wilden, aufgesplitterten Formen als Antwort auf einen von vielen Künstlern so empfundenen „faulen Frieden” darstellte. Fest steht, mehr noch als die bildende Kunst dominierte die Literatur den Ersten Weltkrieg und seine Verarbeitung. Das Kriegsleben als Material für die Literatur, die Literatur als formende Kraft für das (Kriegs-)Leben, dieser wechselseitige Prozeß kann eigentlich nur im Kontext einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs ermittelt und beschrieben werden. Welche literarischen Traditionen prägten die Wahrnehmung des Krieges und wie erinnerte man sich an ihn? Welche mythischen Verbrämungen des täglichen Entsetzens gab es, welche neue Mythen schuf der Krieg? In der Beantwortung solcher Fragen gewinnen die der Literatur eigenen literarisch-kulturellen Wahrnehmungsfilter an Bedeutung, die sich zwischen Ereignis und Verarbeitung schoben. Die Wahrnehmung des Weltkriegs folgte nicht nur unterschiedlichen nationalen, kulturell festgelegten Schemata, die Zeitgenossen selbst bedurften eines ästhetischen Systems, um überhaupt aussprechen zu können, was sie im Krieg erlebt hatten.

„The Well and the World`s End” von William Morris beispielsweise, erschienen 1896, war einer der populärsten Romane im Vorkriegsengland, und viele der Autoren von Kriegsromanen- Gedichten- und Erinnerungen kannten diese pseudo-mittelalterliche Romanze. Die Abenteuer des Prinzen Ralph auf der Suche nach jener Quelle am Ende der Welt, deren Wasser Heilung für die Wunden der Schlacht versprach, wurden zur stilbildenden Imagination einer ganzen Generation, für die Heroismus oder Ehre noch etwas bedeuteten. Die feudal geprägte Sprache von Morris legte sich wie ein Schleier über eine Frontrealität, die ihren sprachlichen Ausdruck erst noch finden mußte. Die Sprache vergangener Ritterwelten ließ sogar in zeitgenössischen Kriegsberichten militärische Aktionen zu „Taten” werden, verharmloste das grausame Krepieren zum „unentrinnbaren Schicksal” und verzuckerte das Blut der Toten zum „süßen Wein der Jugend”. Anders als die Kämpfe an der Front war der Kampf um ihre Darstellung schnell entschieden. Auch in Deutschland. „Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesang ´Deutschland, Deutschland über alles` gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie.” Die pathetisch-poetische Sprache dieses vielzitierten Satzes, mit dem der deutsche Heeresbericht im November 1914 die ungeheuren Verluste ebenso rasch wie schlecht ausgebildeter Freiwilligen-Korps mitteilte, gab den Anstoß zum Mythos von Langemarck.

Doch die Sprache vermittelte in England nicht nur den ganzen Kodex kulturell geprägter Wertvorstellungen und Ideen, sie bewahrte auch, kristallisiert in einzelnen Phrasen und Worten, Teile der kollektiv durchlittenen neuartigen Erfahrungen des Krieges bis in die Gegenwart - indessen ohne daß tradierte Begriffe wie „French 75” oder „No Man`s Land” noch etwas mit ihrer ursprünglichen Bedeutung zu tun haben müssen. „French 75”, einst die Kurzformel für die gefürchtete schnell und präzise schießende französische Kanone vom Kaliber 7,5 cm, benennt mittlerweile einen Drink aus Champagner und Cognac.

Solche semantischen Wandlungsprozesse sind ein Beleg dafür, welche Rolle das vielfach gebrochene, zentrale Ereignis des Krieges in der individuellen und kollektiven Erfahrung der Generationen spielt. Gerade deshalb ist es wichtig, sich die Traditionen bewußtzumachen, durch die Ereignisse des Krieges ihre Deutung erhielten und mitteilbar wurden. Sollte etwa auch die immer wieder beschriebene Desillusionierung nicht so sehr eine reale Erfahrung als vielmehr ein Mittel sein, Erlebnisse zu ordnen, sie überhaupt erst erzählbar zu machen?

 

Wie dieser Finalität entkommen? Der Literaturhistoriker Bernd Hüppauf hat die These verteten, das Schlachtfeld an sich habe keinen Anfang und kein Ende in der Zeit, keinen geographisch begrenzbaren Ort. Es darauf zu reduzieren, hieße, sich einer wesentlichen Verständnisdimension zu berauben. Schlachtfelder wären vielmehr zugleich konkrete und im selben Maße imaginierte Räume. In ihre Planung gingen immer schon die Erinnerungen und Imaginationen früherer Schlachtfelder ein. Das solchermaßen imaginierte Feld der Schlacht werde schließlich in modernen Gesellschaften genutzt, um die erfahrene Destruktion der zurückliegenden, erlebten Schlacht in „Kreativität” umzufunktionieren. Ein Beispiel für diese ganz besondere, vom Schlachtfeld initiierte Tranformation kann in der Geschichte des Films nach 1918 beobachtet werden. Der amerikanische Filmhistoriker Anton Kaes etwa vergleicht zurecht Szenen aus dem Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs mit Sentenzen aus Fritz Langs Klassiker „M. Eine Stadt sucht einen Mörder”. Dabei ergeben sich erstaunliche Parallellen mit der traumatischen Kriegslandschaft der Westfront.

Aber der Begriff der „Kreativität” im Zusammenhang mit den Destruktionserfahrungen des Schlachtfeldes kann auch irritieren. Verliert nicht angesichts solcher Abstraktionen das Leid der die Schlacht bestreitenden Soldaten an Gewicht. „Kreativität” muß in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur als positiv besetzter, das Entsetzliche der Schlacht vernebelnder Begriff gesehen werden, der den möglichen „Codierungen der Gewalt” einen ästhetischen Reiz verleiht. Er betrifft in gleichem Maße zum Beispiel die konkreten militärtheoretischen Absichten, aus der Komplexität der vergangenen Schlacht ihre Zukunft zu destillieren. Ein Typus des Diskurses, mit dem - wie Foucault es formulierte - versucht wurde, „das getrocknete Blut in den Codes wiederzubeleben”.

Das nun kann gewiß nicht die Absicht der folgenden Arbeiten des deutschen Malers Sig Bang Schmidt und des amerikanischen Schriftstellers Steve Dalachinsky sein. Oder jedenfalls nicht im Sinne einer Projektierung künftiger Kriege. Um eine „Wiederbelebung” des ´getrockneten Blutes` geht es ihnen aber schon. Ganz konzentriert auf den imaginären Raum des world wibe net machen sie Ernst mit der zeitlosen Gegenwärtigkeit der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, dem prägenden Ereignis des 20.Jahrhunderts. Dieses Ereignis, so zeigen die Arbeiter der beiden Künstler, vermag sich nicht der Erinnerung anzupassen und damit unscharf zu werden; er ist vielmehr einem ständigen Bedeutungswandel unterworfen, dem das Fragmentarisch-Unscharfe des künstlerischen Zugriffs entspricht. Er steht für die eine so große wie unbeantwortete Frage, die der Erste Weltkrieg in aller Schärfe aufgeworfen hat: Wie können wir uns die Welt der Moderne vorstellen, der es offenbar nicht gelingt, Krieg und Gewalt aus ihrer Realität zu verbannen?